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Ein  Tag an einem Strand in Indien

DATUM Ausgabe April 2017

Es gibt Reisende, die rümpfen die Nase über Strände. Wer die Fremde kennen­lernen will, muss schon Städte und Landschaften durchstreifen. Mit einem schnöden Strandurlaub wird das nichts.

Dieser Sichtweise sei ein Tag am Strand in Indien entgegengehalten. Mararikulam, Bundesstaat Kerala, der Süden des Subkontinents. In Büchern und Apps der Reisenden kommt der Ort kaum vor. Nur wenige verirren sich hierher. Besucher finden keine Hotelburgen als Unterkünfte vor, sondern Hütten, verstreut im Palmenhain. Nachts wird es stockfinster. In den Baumkronen rascheln Affen und Papageien, tagsüber springen weit draußen Delfine im Meer.

Ja, das taugt zur Erholung. Doch zu­gleich lernt man etwas über das Land. Besser gesagt, über zwei komplett unterschiedliche Freizeitverständnisse. Einerseits das wohlvertraute der westlichen Touristen. Andererseits jenes der neuen indischen Mittelschicht, in diesem Fall aus der nahen Kleinstadt Alleppey, die diesen Ort gerade für sich entdeckt.

Windschiefe Palmen wachsen in Mararikulam, vereinzelte Sonnenschirme stecken im Sand. Dazwischen tobt kaum merklich ein Kulturkampf: Bikini (Westler) versus Sari (Inder). Auf-dem-Strand-Liegen (Westler) versus Auf-dem-Strand-Gehen (Inder). Im-Wasser-Planschen (Westler) versus Draußenbleiben (Inder).

Indiens Mittelschicht umfasst laut dem indisch-amerikanischen Journalisten Fareed Zakaria rund 250 Millionen der 1,3 Milliarden Inder. Seit den Neunzigerjahren ist diese Klasse entstanden. Sie arbeitet im Büro, nicht mehr als Bauer oder Handwerker. Sie lebt in Städten, nicht in Dörfern. Das Kastensystem und Religiosität verlieren für sie an Bedeutung. Und so kultiviert sie auch ein modernes Freizeitverständnis. Dieses soll sich von der Arbeit abheben, Erholung und Spaß bieten. So weit, so vertraut. Doch indische Freizeit ist anders.

Beginnen wir beim westlichen Touristen. Er liegt auf seinem Badetuch im Sand oder planscht im Wasser. Zwischendurch praktiziert er Yoga, um das richtige Strandbewusstsein zu erlangen (auch Inder praktizieren Yoga, allerdings kaum jemals öffentlich). Davon abgesehen hat der Westler immer einen kleinen Berg an Material neben sich liegen. Er beinhaltet T-Shirts, Kopfhörer, Bücher, Schnorchel, Wasserbälle und Hautlotionen für vor, während und nach dem Sonnenbad.

Inder hingegen kommen in Straßen­kleidung zum Strand. Häufig sind es vielköpfige Familien, von der Urgroßmutter bis zum Säugling. Dann spazieren sie schwatzend und lachend die Küste entlang. Es folgt ihnen: eine kleine Armada fliegender Händler, die das Grüppchen mit Zuckerwatte, gegrillten Maiskolben und picksüßen Crushed-Ice-Getränken versorgt. Es gibt auch indische Männer, die alleine herkommen, häufig, um westliche Touristinnen auszuspechteln. Auch das gehört zur indischen Realität.

Wenn zwei Gruppen einen Ort derart unterschiedlich nutzen wie Inder und Westler, verträgt sich das gemeinhin schlecht. Deshalb lassen sich Indiens Strände üblicherweise in zwei Fraktionen teilen: jene für Ausländer und jene für Inder. Letztere gleichen eher belebten Promenaden oder Rummelplätzen als Stränden. Mitunter drehen sich gar Karussells und kleine Riesenräder. Doch in Mararikulam ist es noch nicht so weit. Die Trennung ist nicht vollzogen. Der Ort ist noch zu unbekannt, als dass indische und westliche Freizeitwelten einander in die Quere kämen. Stattdessen begegnet man einander mit freundlicher Neugier.

Das Meer dient den meisten Indern übrigens nur als Kulisse. Manche Liebespaare wagen sich bis zu den Knöcheln hinein. Dann umarmen sie einander demonstrativ, abends, bei Sonnenuntergang. Wie im Bollywood-Film.